20/11/2025 0 Kommentare
Stress, der neue Orden
Stress, der neue Orden
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Stress, der neue Orden
Bevor ich überhaupt »Grüß Gott« sagen kann, kommt manchmal schon die Frage: »Du hast eh Stress, oder?« Das ist nicht als Sorge gemeint, sondern als Ritual. Wie früher der Blick aufs Revers, ob ein Orden glitzert. Heute strahlen keine Abzeichen – heute glitzern Augenringe. Wir leben in einer Kultur, in der »busy sein« zum Statussymbol geworden ist. Soziologische Studien zeigen: Wer besonders ausgelastet wirkt, gilt als wichtig, gefragt, erfolgreich. Zeitknappheit wird zur Form des Luxus, der sich nicht mehr in Dingen, sondern in Dauererreichbarkeit ausdrückt. Wer erzählen kann, dass er »völlig im Stress« ist, signalisiert: Ich werde gebraucht.
Stress als Konsumgut
Interessant dabei: Wir sagen kaum noch schlicht »Ich arbeite viel« – wir sagen »Ich habe Stress«. Wir gönnen uns das Arbeiten nicht ohne Krankheits-Vorbehalt. Das Leistungsethos ist geblieben, aber es hat sich eine Leidenspflicht dazugesellt: Nur wer unter der Arbeit leidet, arbeitet moralisch einwandfrei. Wer sagt: »Ich arbeite viel und gern«, wirkt schnell verdächtig – als hätte er etwas nicht verstanden. Garniert wird die Leidenspflicht mit einem Drang zum Konsumismus: Wir sind nicht mehr gestresst, sondern wir haben Stress. Frage in die Runde: Wo kann ich mir Stress kaufen?
Gleichzeitig sind die Zahlen ernst. Die WHO definiert Burnout als Folge von chronischem Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich bewältigt wurde – mit Erschöpfung, innerer Distanz zur Arbeit und sinkender Leistungsfähigkeit. Rund die Hälfte der Beschäftigten weltweit kämpft mit deutlich erhöhten Stresswerten, die in Richtung Burnout gehen. In Deutschland berichtete zuletzt mehr als ein Drittel der Befragten, sich in den letzten 30 Tagen durch Arbeitsstress ausgebrannt zu fühlen. Das sind keine Befindlichkeiten, das sind Alarmsignale – für die es zurecht ärztliche und psychosoziale Hilfen, Not- und Krisendienste gibt. Unser Konsum macht krank, auch psychologisch betrachtet.
Ändern wir unsere Sprache!
Genau deshalb macht mich unser Alltagsgerede vom Stress nervös. Denn je inflationärer wir das Wort verwenden, desto schwieriger wird es, die wirklich Gefährdeten ernst zu nehmen. Wenn jede Deadline »voller Stress« ist, wie beschreiben wir dann den Menschen, der nachts nicht mehr schläft, bei dem Herz, Psyche und Körper auf Rot schalten? Wenn jede volle Woche ein »Burnout« ist, womit benennen wir den Zusammenbruch, der jemanden aus dem Leben katapultiert?
Ich persönlich benutze das Wort »Stress« darum sehr selten. Ich habe viel zu tun, ja. Ich arbeite viel, oft auch gern. Viel Arbeit ist nicht automatisch Krankheit. Es kann anstrengend, herausfordernd, manchmal auch zu viel sein – aber das ist noch nicht zwingend pathologisch. Und ich weigere mich ein bisschen, mich künstlich krank zu reden, nur damit meine Arbeit gesellschaftlich akzeptabler klingt.
Umgekehrt möchte ich jene schützen, für die der Begriff »Stress« tatsächlich ein medizinisches Warnsignal ist. Wenn wir als Gesellschaft alles pathologisieren, was anstrengend ist, erreichen wir einen paradoxen Effekt: Die, die wirklich Hilfe brauchen, gehen im allgemeinen Jammerpegel unter – und die, die eigentlich gut ausgestattet wären, reden sich selbst in eine Dauerkrise.
Klare Ansagen statt überbordender Vergleichssport
Dazu kommt der kommunikative Reflex: »Du hast eh Stress, oder?« Dieser Satz klingt höflich, ist aber oft eine Art Ausweisprüfung. Man möchte bestätigt bekommen, dass alle gleichermaßen am Limit sind. Denn wenn der andere entspannt wäre, müsste ich mich ja fragen, ob mein eigenes Drama wirklich so groß ist. Stress wird zum Vergleichssport, zur olympischen Disziplin des Erschöpftseins.
Vielleicht wäre es ein kleiner kultureller Fortschritt, wenn wir wieder freier sagen dürften: »Ich arbeite viel.« Oder: »Ich arbeite gern viel.« Oder auch: »Ich arbeite gerade wenig und das tut mir gut.« Ohne Rechtfertigung, ohne Krankenschein im Satzbau. Wir dürfen Arbeit mögen, ohne gleich als Workaholics zu gelten. Und wir dürfen sie belastend finden, ohne automatisch Burnout zu haben.
Sprache entpathologisieren!
Ich plädiere dafür, unsere Sprache zu entpathologisieren – im Alltag. Vielleicht könnten wir eine neue Höflichkeitsformel einführen. Statt: »Du hast eh Stress, oder?« einfach: »Wie geht es dir mit deiner Arbeit gerade?« Da bleibt Platz für alles: für Überlastung, für Freude, für Langeweile, für Stolz. Und wer dann sagt: »Ich arbeite viel und ich mache das gern«, muss sich nicht mehr entschuldigen – sondern darf das fast schon revolutionär wirken lassen. Stellen Sie sich vor, wir würden uns wieder mit etwas anderem schmücken als mit Augenringen. Das wäre – zugegeben – ungewohnt. Aber vielleicht die einzige Auszeichnung, die auf Dauer wirklich gut tut.
Links:
- Wenn Sie an Schlaflosigkeit, depressiven Stimmungen oder ähnlichen Symptomen leiden, wenden Sie sich bitte lieber früher als später bei den psychosozialen Zentren in Tirol oder bei ähnlichen Angeboten in Ihrer Gegend!
- Diakonie Österreich: Psychotherapie und Gesundheit.
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