Die Kirche hat eine Bedeutung - auch heute noch. Eine Gegenthese zu Markus Beile

Die Kirche hat eine Bedeutung - auch heute noch. Eine Gegenthese zu Markus Beile

Die Kirche hat eine Bedeutung - auch heute noch. Eine Gegenthese zu Markus Beile

# Kommentar

Die Kirche hat eine Bedeutung - auch heute noch. Eine Gegenthese zu Markus Beile

Markus Beile beschäftigt sich in einem Aufsatz intensiv mit dem Zustand der Kirche und nennt mehrere Gründe für ihren Bedeutungsverlust. Er kritisiert das schlechte Image, das starre Festhalten an alten Gottesdienstformen, den Mangel an emotionaler Ansprache und die oft wahrgenommene Unglaubwürdigkeit der Institution. Beile führt aus, dass diese Entwicklungen keine neuen Phänomene sind, sondern das Ergebnis eines langen Prozesses der Entfremdung von traditionellen Glaubensinhalten. Für ihn braucht die Kirche nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine inhaltliche Erneuerung, um wieder relevant für die Menschen von heute zu werden.

Als evangelisch-lutherischer Pfarrer in Kufstein sehe ich die Notwendigkeit, eine Stimme zu erheben, die eine andere Perspektive zu den Thesen von Markus Beile aufzeigt. Viele Menschen in unserer Kirche schweigen oder nicken zustimmend, während diejenigen, die anderer Meinung sind, Beiles Argumente oft nicht kennen oder sich entmutigt zurückgezogen haben. Ich möchte hiermit deutlich machen, dass es innerhalb der evangelischen Kirche Österreichs zahlreiche andere Stimmen gibt, die sich seinen Sichtweisen nicht anschließen.


Feuerbach als Ausgangsthese?

Gottesbilder sind letztlich Ausdruck des Menschen – das ist eine berechtigte Kritik, die Ludwig Feuerbach einst formulierte: „Nicht Gott schuf sich den Menschen zu seinem Bilde, sondern der Mensch schuf sich Gott zu seinem Bilde“ (Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1841). Diese Auffassung bildet den Ausgangspunkt für Beiles These, dass die Kirche sich in dogmatischen Lehrsätzen „eingekastelt“ und das ursprüngliche, reine Christentum verloren habe.

Doch hier wird eine wesentliche Perspektive ausgelassen: Die leidvolle Entstehungsgeschichte der Kirche. Es waren keine Phantasten, die sich das Christentum unter den Nagel reißen wollten. Für zentrale Lehrsätze wie die Existenz eines einzigen Gottes oder die Ablehnung der Vergötterung eines irdischen Herrschers sind Menschen gestorben. Die römischen Kaiser und ihre Vasallen setzten alles daran, Christen für ihre „verschachtelten“ Dogmen hinzurichten. Diese Lehrsätze waren daher nie Selbstzweck, sondern gaben den Menschen 1) Klarheit in der Lehre und 2) Kraft, Freiheit, Geborgenheit und Trost. Auch heute noch sterben Menschen für diese christlichen Lehrsätze, weil sie sich sicher sind, dass es einen Gott gibt, der sie aus dem Leid der Welt erlöst.


Beiles „Bildersturm“: Eine gefährliche Theologie?

Die Kirche beschränke sich zu sehr auf das Bild eines „himmlischen Vaters“, kritisiert Beile. Die Bibel biete jedoch eine Vielzahl von Gottesbildern: Gott als „Burg“ (Psalm 18,2), „Hirte“ (Psalm 23), „Mutter“ (Jesaja 66,13) oder etwa „Feuer“ (5. Mose 4,24). Diese Vielfalt sollte erhalten bleiben oder wiederentdeckt werden. Dieser These stimme ich inhaltlich zu. Beile möchte jedoch bestimmte Gottesbilder wie das des „Kriegsmannes“ aus dem Christentum verbannen (Exodus 15,3: „Der HERR ist ein Krieger“). Diese Selektion ist aus meiner Sicht theologisch willkürlich, vor allem angesichts des Krieges in der Ukraine. Viele Menschen finden Trost in der Vorstellung eines Gottes, der für sie kämpft. Ein solches Gottesbild auszublenden, blendet auch eine heutige Realität aus – sowohl aus politischer als auch aus theologischer Sicht.

Bereits in der Vergangenheit gab es Versuche, Gottesbilder zu verdrängen. Bis 1945 strebten einige Theologen etwa an, den „Gott Israels“ aus der christlichen Lehre zu streichen. Das Gottesbild war ihnen schlicht „zu undeutsch“ gewesen. Ein Gottesbild, welches dem liberalen deutschnationalen Zeitgeist entsprach. Falls Geschichte Lehrmeisterin sein kann, dann zeigt sie mir hier auf, wie gefährlich eine theologische Vorgehensweise sein kann, die beginnt, unnahbare oder manchmal sogar unzumutbar wirkende Gottesbilder aus ihrer Lehre zu streichen.


Biblische Erzählung ist vieldeutig

Die Bibel sei eine „Bildwelt“ ohne faktischen Anspruch, postuliert Beile. Ich sehe das anders. Die Bibel erhebt durchaus den Anspruch, Wahrheit zu vermitteln, auch wenn dies nicht in einem wortwörtlichen Sinn gemeint ist. So haben wir beispielsweise zwei Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel oder vier Evangelien, die die Geschichte Jesu aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Diese verschiedenen Berichte wurden bewusst so bewahrt und sind Ausdruck einer Vielfalt, die das Christentum von Anfang an kannte. Dabei geht es nicht um logische Widersprüche, sondern um inhaltliche Differenzen, mit denen das Christentum schon immer umgehen musste. Sowohl liberale Theologen wie Schleiermacher als auch radikale Pietisten strebten stets nach Klarheit und lehnten Zweideutigkeiten ab. Ähnlich verhält es sich bei Beile, der die Entstehung der Welt als ein Rätsel beschreibt, das Staunen auslöst, aber jeglichen tieferen Sinn aus der Gleichung streicht. Er fordert dazu auf, die Welt lediglich „als ob“ ein Sinn vorhanden wäre, zu betrachten. Auch das mag seinen Reiz haben, aber ich meine, dass diese Betrachtungsweise die Worte „als ob“ sehr rasch aus den Lehrsätzen streichen wird. Zurück bleibt nurmehr eine verkümmerte, sinnbefreite Weltsicht.

Das Christentum bietet jedoch mehr als bloß ein „als ob“. Selbst Friedrich Schleiermacher prägte den Ausdruck „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ in der Weltsicht zu haben, die sowohl Ehrfurcht als auch Staunen beschreibt, die mit religiösem Erleben verbunden sind. Doch es geht nicht nur um ein vages Staunen, sondern um einen Sinn, der trägt und Orientierung gibt. Das Staunen über die Schöpfung ist verwoben mit dem Staunen darüber, dass man an Gott glauben kann – beides weist auf eine tiefere Realität hin, die nicht bloß intellektuell konstruiert ist. Zudem staunt das Christentum nicht nur über die Schönheit dieser Welt, sondern es staunt auch über die tiefen Abgründe, über die menschlichen Tiefen dieser Welt. 


Der Fall des Menschen: Mehr als Selbstentfremdung

In seinem Aufsatz streift Beile den Sündenfall nur oberflächlich. Er beschreibt Adam als „Mensch“ und Eva als „die Schenkende“, wo bei man Eva noch viel bedeutender als „die ins Leben Rufende“ übersetzen könnte. Für ihn ist der Sündenfall die Geschichte des Menschen, der sich von sich selbst entfremdet und seine Bestimmung verliert. In dieser Darstellung fehlt jedoch jede Erwähnung einer transzendenten Kraft oder eines göttlichen Handelns – es bleibt ein Glaube, der letztlich ohne Gott auskommt. Weder Gott noch Menschen rufen in dieser Erzählung andere ins Leben, Beiles Anthropologie kreist um sich selbst.

Was hier nicht zur Sprache kommt, sind die konkreten Verfehlungen der Menschen: Situationen, in denen Menschen bewusst anderen schaden, morden, stehlen, lügen. Oft wird dann behauptet, dass diese Handlungen gegen die eigene „Bestimmung“ verstoßen hätten. Doch ist das wirklich so? Haben Menschen tatsächlich gegen ihre Bestimmung gehandelt, wenn sie stehlen oder lügen? In vielen Fällen zweifle ich daran.

Schleiermachers theologische Nachfolger, wie auch Beile, neigen dazu, den Begriff der Sünde aus der religiösen Lehre zu streichen. Doch das verkürzt nicht nur die Theologie, sondern auch das Verständnis des Menschseins. Die Realität der Sünde gehört zur Anthropologie, weil solche Verfehlungen und Abgründe nun einmal existieren. Wenn das Christentum die Sünde vollständig aus seiner Lehre streichen würde, würden andere „religiöse Anbieter“ diese Lücke schnell füllen – und genau das sehen wir bereits geschehen.


Jesus ist mehr als ein bloßer „Wegweiser“

Jesus wird in Beiles Aufsatz auf einen bloßen „Wegweiser zum erfüllten Leben“ oder ins „Paradies“ reduziert. Dabei fehlt jede Erwähnung einer Nachfolge im Leid oder der tiefen Verbindung zwischen Kreuz und Erlösung. Jesus wird bei Beile zu einem unglücklichen Menschen, der es den Mächtigen nicht recht machte und deshalb sterben musste. Das Reich Gottes beschreibt er nur als einen Ort der Versöhnung, während er die Dogmatik als Ursache einer Entfremdung darstellt.

Doch Beile verkennt hier die tiefere Bedeutung von Jesu Botschaft. Indem er Jesus auf eine rein moralische Figur reduziert, die ausschließlich für Nächstenliebe und Harmonie steht, ignoriert er wesentliche Elemente des Evangeliums. Es fehlen in seiner Darstellung die scharfen Gerichtsworte, die Jesus selbst verkündete und die – betrachtet man die Quellenkritik zur Logienquelle – eine hohe Authentizität besitzen. Diese Verkürzung zu einem „Wohlfühlevangelium“ ist weit entfernt von der Realität menschlichen Lebens mit all seinen Herausforderungen und Konflikten.

Das Weltgericht, das Jesus verkündet, ist nicht bloß ein moralischer Appell zur Nächstenliebe, sondern eine unverrückbare Konstante, die am Ende der Zeit steht. Beiles Ansatz, diesem Gericht ausschließlich eine ethische Bedeutung zuzuweisen, greift zu kurz. Die Worte Jesu tragen eine existenzielle Schwere, die das Ringen um Gerechtigkeit und Wahrheit in dieser Welt widerspiegelt. Ihnen lediglich eine moralische Mahnung zu unterstellen, erscheint theologisch gewagt und lässt die Tiefe der christlichen Botschaft unberücksichtigt.


Kirche soll ein Stärkungsverein sein, niemals eine „Nachfolgeorganisation“!

Beile stellt die provokante Behauptung auf, Paulus habe sich wenig für die Botschaft Jesu interessiert. Das ist ein steiler Satz, denn Paulus ist der authentischste Zeuge, den wir haben – seine Briefe wurden nur wenige Jahre nach dem Tod Jesu und der geglaubten und verkündeten Auferstehung verfasst. Zu behaupten, Paulus sei von der Botschaft Jesu unberührt geblieben, ist eine deutliche Verzerrung. Noch gravierender ist, dass Beile hier das Kreuz und seine Bedeutung ausklammert. Das Kreuz ist kein nebensächliches Symbol, sondern das Zentrum der christlichen Botschaft: Es steht für die Freiheit von jedem Gesetz, für den Sieg über den Tod und für die Überwindung des Leids. Beiles Theologie reduziert das Christentum auf einen ungenauen moralischen Kompass, der flexibel angepasst werden kann, und lässt damit die befreiende Kraft des Kreuzes außen vor.

Zuletzt beschreibt Beile die Kirche als „Nachfolgeorganisation“ Jesu. Nachfolge in welcher Form? Darauf geht er nicht konkret ein. Kirche als Organisation scheint er eher nach Luhmanns Systemtheorie zu entwerfen als durch biblische Exegese. Doch eine Kirche, die sich nur als solche versteht, hätte meines Erachtens nach tatsächlich keine Zukunft. Die Kirche, besonders die evangelische, versteht sich nicht bloß als Organisation, sondern als Gemeinschaft, die auf dem Wort Jesu gründet: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20). Sie ist mehr als eine Institution oder Organisation – sie ist der Ort, an dem die Gegenwart Christi in der Gemeinschaft erfahrbar wird. Die Ideen dieser Gemeinschaft reichen über Menschenleben und Generationen hinweg. Sie ist nicht deskriptiv, sie ist immersiv (sinnlich erfahrbar).


Mein Fazit

Der Aufsatz zeichnet die Kirche als reformbedürftig und fordert eine umfassende inhaltliche Erneuerung, um die wachsende Entfremdung der Menschen von traditionellen Glaubensinhalten zu durchbrechen. Beiles Vorschläge zielen darauf ab, dogmatische Lehrsätze zu überdenken, neue Gottesbilder zu etablieren und die Bibel eher als „Bildwelt“ denn als Quelle faktischer Wahrheit zu interpretieren. Er sieht die Notwendigkeit, die Kirche neu zu denken, um ihre Relevanz in der heutigen Zeit zu bewahren.

Doch Beiles Analyse blendet wichtige Aspekte aus. Die historische Entwicklung der Kirche war geprägt von Verfolgung, in der Lehrsätze nicht Selbstzweck waren, sondern klare Orientierung, Trost und eine Grundlage für Freiheit boten. Auch die Vielfalt der Gottesbilder in der Bibel zeigt, dass christliche Theologie schon immer Raum für unterschiedliche Deutungen hatte, und das Ausklammern bestimmter Bilder zu gefährlicher Willkür führen kann. Beiles Ansatz, die Rolle Jesu auf einen bloßen „Wegweiser“ zu reduzieren und das Kreuz aus der christlichen Botschaft zu tilgen, führt zu einer Verkürzung des Evangeliums. Jesu Gerichtsworte und das zentrale Thema der Erlösung gehen so verloren, ebenso wie die existenzielle Tiefe, die das Christentum und die Anthropologie ausmachen.

Beiles Aufsatz fordert zweifellos wichtige Reflexionen heraus, doch sein Ansatz führt zu einer Reduktion des Glaubens, die der historischen und geistlichen Tiefe des Christentums nicht gerecht wird. Und letztlich kann man einen solchen Glauben - überspitzt formuliert - getrost weglassen, denn an der eigenen Wirklichkeit ändert er kaum etwas.

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